Geburtspsychologie 16.2.15
Landläufig wurde bisher die Geburt als ein „natürliches“, quasi biologisches Ereignis ohne eine psychologische Bedeutung angesehen, und zwar entgegen allem Augenschein, der an der Mimik der Neugeborenen erkennen lässt, wie sie von intensivsten Gefühlen und Empfindungen bewegt werden. Dazu kommt ja auch, dass wir heute frühgeborene Kinder in ihrem Erleben und Empfinden beobachten können. Darüber hinaus können wir seit einiger Zeit die Kinder vor ihrer Geburt in ihrem Verhalten und im Ausdruck ihrer Gefühle beobachten. Womit hängt also diese weitgehende Verleugnung eines Erlebens bei der Geburt zusammen?
Dazu kann man sich folgende Vorstellung machen: die Erfahrungen vor, während und nach der Geburt werden in den unteren Schichten der rechten Gehirnhälfte auf einer senso-motorisch-imaginativen Ebene gespeichert, die später vom Sprach-Ich in der linken Hälfte des Gehirns her nicht zugänglich sind. Zudem ist ein Gefühl für die eigene Lebensgeschichte ein relativ neues Phänomen. Erst vor ca. 100 Jahren gelang es, auch diese frühesten vorsprachlichen Gefühlserfahrungen als bedeutsam zu identifizieren, und zwar zunächst als spontan auftauchende und aus dem unmittelbaren Kontext herausfallende Gefühle und Empfindungen in der psychotherapeutischen Situation: so konnte etwa ein plötzliches Erstickungsgefühl als Wiederkehr eines Gefühls der Erstickung bei der Geburt identifiziert werden, wenn man über die Geburtsumstände Bescheid wusste. Auch Symptome konnten so bestimmten geburtlichen und vorgeburtlichen Erfahrungen zugeordnet werden, wie etwa Engeängste als Folge eines Steckenbleibens bei der Geburt oder Gefühle von Orientierungsverlust als Folge einer Kaiserschnittgeburt.
Die verschiedenen Aspekte der Psychologie der Geburt sollen in diesem Blog sukzessive thematisiert werden.
Dynamik der Geburtsgefühle 17.2.2015
Die Speicherung der geburtsbezogenen Gefühle in den tiefen Schichten der rechten Gehirnhälfte bedingt, dass sie zwar als Hintergrundsfilm in unserem Erleben mitlaufen, aber erst neuerdings einer Reflexion, wie angedeutet, zugänglich werden. Wichtige Elemente dieses Hintergrundsfilms sollen erst einmal aufgezählt werden: Ein wichtiger Aspekt der Geburt besteht darin, dass das Kind, um zur Welt zu kommen, den vorgeburtlichen Bezug zur Mutter „opfern“ muss. Darum stellt das Opfer ein zentrales kulturelles Element in allen Kulturen dar. Ein damit relativ verbundener Aspekt besteht darin, dass man irgendwie Schuld daran ist, dass der vorgeburtliche Zustand von Bedürfnisbefriedigung und Einheit so schmerzlich endet. Ein weiterer Aspekt der Geburt besteht darin, dass das Kind, um zur Welt zu kommen, sich anstrengen und evtl. sogar „kämpfen“ muss. Darum sind wichtige Aspekte zur Bewältigung von Veränderungen und Notsituationen die Anstrengung und der „Kampf“. Das Problem besteht eben darin, dass Anstrengung, Kampf und Opfer ihre Evidenz aus der elementaren Wirklichkeit der Geburt beziehen, aber eben zurzeit auf einer kollektivpsychologischen Ebene noch nicht reflektierbar sind.
Das unterstreicht die Wichtigkeit einer Geburtspsychologie auch zum Verständnis gesellschaftlicher Vorgänge. Das gilt insbesondere auch für das Verständnis von den von Van Gennep beschriebenen universellen Übergangsriten, die es den Mitgliedern von Stammeskulturen möglich machen, Änderungen seelisch zu bewältigen, wie dies insbesondere in den Initiationsriten oder Pubertätsriten ausgestaltet ist: eine symbolische Mutterleibsregression und Wiedergeburt verhilft dem Jugendlichen dazu, den Wechsel von der Kinderwelt in die Erwachsenenwelt und den damit verbundenen Mentalitätswechsel in seiner Kultur seelisch zu realisieren. Hier wird also die transformative Kraft der Geburtsmuster konstruktiv genutzt.
Auf der individualpsychologischen Ebene sind die Märchen in einer vergleichbaren Weise mit ihren Bildern von Heldenreisen in eine jenseitige Welt und die heldenhafte oft mit Kämpfen verbundene Rückkehr in die Welt als Erwachsener hilfreich, um diesen Reifungsprozess zu verwirklichen. Auch hier wieder wird die transformative Kraft der Geburtsmuster genutzt, um die seelische Transformation vom Jugendlichen zum Erwachsenen zu realisieren.
Dies sollten Beispiele für die allgemeine Präsenz der Geburtsmuster im seelischen Erleben auf der kollektiven und individuellen Ebene sein, die in späteren Kapiteln im Einzelnen erläutert werden (siehe auch die entsprechenden Kapitel in meinen Büchern "Wie die Seele entsteht". Mattes, Heidelberg 2011, und "Geburt". Psychosozial, Gießen 2015).
Die Präsenz der Geburtsgefühle in den Märchen 18.2.15
Die Märchen erzählen auf einer bildhaften Ebene das, was in den Pubertätsriten konkret inszeniert wurde: die Bewältigung der Transformation vom Jugendlichen zum Erwachsenen durch eine Mutterleibsregression etwa als eine Reise in eine Höhle oder in einen Wald gestaltet und danach die Rückkehr auf der neuen Ebene des Erwachsenen oder auf der symbolischen Ebene der Märchenerzählung als eine Jenseitsreise und Wiederkehr. gestaltet Der psychologische Hintergrund ist der, dass das Kind nach der Geburt im elterlichen Milieu und der elterlichen Familie einen Ersatz für die zu früh verlorene Mutterleibswelt findet. Diese Familienwelt suggeriert gewissermaßen fötale Befriedigung und Sicherheit und befriedigt das Bedürfnis nach einem primären Platz im Leben, der in der Kinderzeit real auch von den Eltern zur Verfügung gestellt wird und mit der Abhängigkeit von den Eltern verbunden ist, die auch wieder ein fötalen Aspekt hat: solange die Eltern da sind, ist alles gut. Durch die biologischen Reifungsvorgänge der Pubertät im Verein mit dem biologisch bedingten Inzesttabu wird dieses Konstrukt gewissermaßen aus den Angeln gehoben. Der Jugendliche verliert hierdurch sein Abhängigkeits-Ich und damit den Halt im Familienuniversum. Der einzige Ort, den er außerhalb des Familienuniversums kennt, ist der vorgeburtliche Lebensraum. Auf diesen muss er sich beziehen, um in Kontakt mit seiner vitalen Urenergie zu kommen. Dies wird auf der senso-motorisch-imaginativen Ebene der frühen rechtshirnisch gespeicherten Erfahrung in die Pubertätsriten ganz konkret auf einer handlungssymbolischen Ebene inszeniert. Erst in viel späterer Zeit nach unendlichen Wiederholungen und Prozesses des transgenerationalen Mentalisierens und Lernens kann dies auch auf einer symbolischen Ebene, eben der der Märchen, „erzählt“ werden. Dies stellt einen Bewusstwerdungsprozess in der kollektiven Mentalität dar. Das Problem dabei ist nur, dass hierdurch wiederum die perinatalen und pränatalen Zusammenhänge undurchsichtig werden, weil hier linkshirnisch etwas in einer traumartigen Realität erzählt wird, was eigentlich Projektion perinataler und perinataler realer Erfahrung ist, aber eben transformative Erfahrung, die gewissermaßen genutzt wird, um die Transformation von sich selbst und seinem Umweltbezug zu realisieren.
Geburtsgefühle und Erlebnis 20.2.15
Die latente Präsenz der frühen vorsprachlichen Gefühle im Erleben und deren Resonanz mit der aktuellen Situation gibt dem menschlichen Erleben eine besondere Tiefendimension und Dramatik. Das aktuelle Ereignis gerät immer auch in Resonanz mit präverbalen Urereignissen. Im Prinzip hatte dies Freud auch schon in dem Sinne erkannt, dass ein aktuelles Ereignis immer auch in Resonanz zu kindlichen Erfahrungen und Wünschen steht. Er dachte dabei aber eher an das 3-4 –jährige schon sprachfähigen Kind. Aus der Sicht der Pränatalen Psychologe geht es also um eine Vertiefung dieses Zusammenhangs, den Jung auch schon ahnungshaft mit dem Konzept der Archetypen erfasst hatte, aber eher in einer statischen und projektiven Weise.
Auf der Ebene der Stammeskulturen wurde diese Resonanz in den Riten inszeniert, ohne reflektiert werden zu können. Aber es bestand das intensive Bedürfnis bei „Übergängen“ die durch ein aktuelles Ereignis ausgelöste Tiefenerregung szenisch im Ritus und Tanz zu gestalten. Demgegenüber haben andere Primaten ein einheitlicheres affektives Erleben: es spiegelt unmittelbar die instinktive Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis. Durch die Besonderheiten der emotionalen Frühentwicklung beim Menschen mit einem Beginn in den tiefen Schichten der rechten Gehirnhälfte und einem überwechseln zur sprachbezogenen linken Gehirnhälfte entsteht im Erleben eine dynamische Spannung, die spezifisch für den Homo Sapiens ist.
Die kulturelle Leistung besteht darin, dass die szenischen Gestaltungen dann zunächst in Mythen in einem gewissen Sinne reflektiert wurden, aber noch in einer projektiven Weise, bis dann später auch eine Innenwahrnehmung als eigenes Gefühl möglich wurde. Der entscheidende Punkt besteht darin, das eben die Besonderheit des menschlichen Erlebens darin besteht, dass es in einer steten Balance und Spannung zwischen Erfahrungsschichten aus verschiedenen Lebensphasen steht, die unterschiedlich organisiert sind, rechtshirnisch szenisch, linkshirnisch verbal.