Geschichtspsychologie 15.2.2015
In der üblichen Geschichtsschreibung steht der Bericht über das, was geschehen ist, im Vordergrund. Dem steht jedoch gegenüber, dass das geschichtliche Geschehen Ausdruck der Dynamik menschlicher Bedürfnisse und Wünsche ist. Diese Dynamik war aber mit den Möglichkeiten der bisherigen Psychologie nicht ausreichend erfassbar. Die Konzepte der Psychoanalyse wie die der Triebe, des Unbewussten und des Über-Ich waren zu statisch und zu allgemein. Die Konzepte der akademischen Psychologie waren zu deskriptiv und spielten auch nur marginal eine Rolle. Heute jedoch hat sich durch die Forschung der Pränatalen Psychologe und der Psychohistorie eine neue Situation ergeben, weil es hierdurch möglich ist, die primären Gefühle und Empfindungen aus der vorgeburtlichen Lebenszeit, der Geburt und den ersten Lebensjahren, die rechtshirnisch im Stammhirn gespeichert sind und später vom linkshirnischen Sprachzentrum her nicht erreichbar sind zur Erfassen und zu reflektieren. Diese primären Gefühle sind wesentliche Determinanten des religiösen und kollektiven Erlebens und der hierdurch bedingten Inszenierungen. Durch ihre Erschließung besteht heute die Möglichkeit zu einem neuen Zugang zum Verständnis der Dynamik des geschichtlichen Geschehens. Dies soll auf diesem Blog „Geschichtspsychologie“ in den nächsten Wochen und Monaten im Einzelnen entwickelt werden.
Ausgangspunkt der menschlichen Geschichte 16.2.15
Der Ausgangspunkt der menschlichen Geschichte besteht in einer Umgestaltung von Schwangerschaft und Geburt in der Evolution. Die biologischen Bedingungen des aufrechten Ganges, der einen festen Beckenring erforderte, und das größere Gehirn führten zu einer Verkürzung der Schwangerschaft um 9-12 Monate, um überhaupt eine Geburt zu ermöglichen. Dies ist die von dem Biologen Portmann (1969) beschriebene „physiologische Frühgeburtlichkeit“, deren Folge die Unreife der menschlichen Säuglinge ist, die ihr erstes „extrauterines Frühjahr“ in großer Hilflosigkeit verbringen müssen. Die psychologischen Implikationen dieser Situation sind bisher noch nicht ausreichend reflektiert worden. Sie haben aber grundsätzliche Bedeutung: die menschlichen Babys können nicht dadurch Sicherheit herstellen, dass sie sich am Fell der Mutter festhalten oder eben als Kleinkinder in die soziale Gruppe integrieren, wie die so genannten “Nestflüchter“ wie etwa kleine Elefanten es tun, zu denen wir von der Evolution her gehören. Menschliche Babys stellen durch Beziehung Sicherheit her: ihre Mittel dazu sind Augenkontakt, Mimik, Gestik, lautlicher Kontakt und intensives Antworten auf die Bezogenheit der Mutter und der anderen Familienmitglieder.
Von ebenfalls grundsätzlicher Bedeutung ist die Tatsache, dass die Babys zwar auf der Welt sind, sich aber noch in einer tranceartigen fötalen Mentalität befinden. Die Mutter ist gleichzeitig die reale Mutter und die fötale Trancemutter. Das hat die Folge, dass die Babys und Menschen überhaupt immer einen Bezug zu zwei Welten haben, der realen Welt und einer fötalsymbolischen zweiten Welt, die als jenseitige Welt in allen Mythen, Märchen und Religionen menschliches Erleben begleitet. Dieser Bezug auf zwei Welten ist ein Grundelement der menschlichen Existenz. Die hieraus folgende Dynamik im Bezug zur Welt und zu sich selbst macht den Menschen zum geschichtlichen Wesen, der immer erneut die äußere Welt so verändern will, dass sie der zu früh verlorenen ersten Welt als einer umfassend bedürfnisbefriedigenden Welt ähnlich werden soll und gleichzeitig sich selbst immer entsprechend diesen äußeren Veränderungen innerlich umgestaltet, umso den veränderten Lebensbedingungen zu entsprechen. Der Mensch ist also Geschöpf und Schöpfer seiner Welt und von sich selbst gleichzeitig.
Die dynamischen Kräfte im geschichtlichen Prozessen 17.2.2015
Die geschilderte biopsychologische Situation der „physiologischen Frühgeburtlichkeit“ setzte dramatische Kräfte frei, um das Überleben unter den schwierigen Bedingungen zu ermöglichen. Sie seien zunächst einmal nur aufgezählt: Intensivierung der Fürsorge für das quasi noch fötale Kind, Entwicklung der Prosozialität der Väter, um die so verletzliche Mutter-Kind-Einheit zu schützen, von fötalen Gefühlen geprägte Eltern- beziehung, wie sie später auch das Sozialleben der Stammeskulturen als eine auf ein Totem bezogene mystischen Einheit prägen, und Intensivierung der Mutter-Kind- Kommunikation mit magischer Bedeutungsaufladung. Man könnte es auch so ausdrücken, dass die Menschen immer in zwei Bezugssystemen leben, einem fötal-magischen und einem durch die Instinkte eines Primaten gesteuerten Bezugssystems.
Dieser Doppelbezug schafft eine enorm dynamische Situation, alles kann immer noch oder hat immer noch eine zweite Bedeutung. Das beinhaltet zum einen kreative Möglichkeiten und zum anderen die Möglichkeiten von chaotischen Konfusionen, für die immer wieder mit dem Leben vereinbare Lösungen gefunden werden müssen.
Hierin sehe ich einen wichtigen Hintergrund für die Entstehung der Sprache: zum einen die magisch-bedeutungshafte Aufladung der lautlichen Kommunikation zwischen Mutter und Kind auf der einen Seite und die Notwendigkeit angesichts der immer doppeldeutigen Umweltwahrnehmung zu einem in der Gruppe geteilten Verständigungssystem zu kommen, auf das man sich beziehen kann. Zentral ist jedoch der Gesichtspunkt, dass die Präsenz fötaler Gefühle ein Dauerimpuls ist, die Welt zu einer primären Befriedigungswelt umzugestalten, und die daraus resultierende Notwendigkeit, die eigene Mentalität so umzugestalten, dass man mit der veränderten Welt sinnvoll umgehen kann. Dies ist also die spezifisch menschliche Dynamik einer beständigen Umgestaltung der Umwelt und einer entsprechenden Umgestaltung der eigenen Mentalität. Die Folge ist der geschichtliche Prozess, der heute so detailreich von den historischen Wissenschaften von außen beschrieben worden ist.
Ich-Steigerung im historischen Prozess 18.2.15
Ein wesentliches Element im historischen Prozess ist die zunehmende Ichstärke und Handlungsfähigkeit der Mitglieder der historischen Gesellschaften. Wegen der Bedeutung möchte ich hierzu einige Vorstellungen entwickeln. Schon ganz früh in der Psychoanalyse wurde von den Psychoanalytiker Ferenczi vermutet, dass sich das Kind vor der Geburt in einem primitiven Allmachtsgefühl befindet. Es ist Herr oder Frau in seinem Mikrokosmos im Bündnis mit einem höheren Schutzwesen. In vielfältiger Weise geht es in menschlichen Kulturen darum, zu diesem ursprünglichen Allmachts- und Kraftzustand wieder in Kontakt zu kommen und etwas von der urtümlichen Kraft als Ressource den Schwierigkeiten der Realität gegenüber zu nutzen.
Auf der Ebene der Stammeskulturen findet dies seinen Ausdruck in den Riten um das Totem, dem Repräsentanten der vorgeburtlichen Mutter, das einen durch das magische Mana immer wieder neu mit Kraft versorgen soll. Eine andere Weise, primäre Kräftigung zu erreichen, besteht in der Schamanenreise, in dem der Schamane direkt innerlich in vorgeburtliche Zuständlichkeiten regrediert und hierdurch die Kraft gewinnt, sich der Bewältigung eines realen Problems zu widmen. All dies geschieht auf der Ebene der Stammeskulturen noch weit gehend auf einer magisch-imaginativen Ebene. Durch den Regenzauber, den Krankheitszauber oder das Mana wird in der Realität nichts verändert, aber das Erleben gewinnt subjektiv ein Gefühl von Macht und Handlungsfähigkeit durch die Kräftigung aus einer jenseitigen Welt.
Durch den Bezug auf die jenseitige Welt gewinnen die Menschen einen Abstand zur Realität, an die sie durch ihre Primateninstinkte gebunden sind. Das ist das konstruktive und kreative Moment im historischen Prozess, dass die Menschen auf diese Weise Abstand zur Welt und damit auch einen neuen unabhängigen Standpunkt gewinnen, aus dem heraus sie einen Bezug zu sich und zu ihrer Umwelt entwickeln können, den sie innerlich regulieren, der eben nicht mehr einfach durch den Bann der Instinkte vorgegeben ist.
Dieser Prozess einer zunehmenden Autonomie und Handlungsfähigkeit entwickelt sich schrittweise unter anderem durch die technischen Erfindungen, die ein Stück pränataler Sicherheit und Schutz in der Welt realisieren, wie etwa die Mutterleibswärme mit der Erfindung des Feuers, den Mutterleibsschutz mit der Erfindung des Hauses und der Kleidung, natürlich in vielen kleinen Schritten wie etwa vom Windschirm über die Hütte zum Haus usw.. All das kulminiert in der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht, die die Welt zu einer Art Schlaraffenland umgestaltet, woraus sich ungeahnte neue Möglichkeiten zur Gestaltung einer kulturellen Lebenswelt in den frühen Städten ergeben. Charakteristisch für diese Zeit der frühen Kulturen ist nach Wilhelm Wundt die Figur des Helden, der alle diese zivilisatorischen Leistungen aus einer quasi göttlichen Kraft realisieren kann, weshalb Wundt vom Heldenzeitalter sprach. Auf einer viel personalisierteren Weise als auf der Ebene der Stammeskulturen wird diese Handlungsfähigkeit durch den Bezug des Helden auf die Kräftigung durch eine jenseitige Welt begründet. Auch der Weg über das Totem ist weiter präsent: das Medium der Stärkung aus dem Jenseits sind jetzt die frühen theokratischen Herrscher, die im alten Ägypten ja anfangs auch noch direkt Tiercharakter haben.
In den Stadtkulturen entwickelt sich nun ein sehr dynamischer Entwicklungsprozess zwischen immer neuen Erfindungen und organisatorischen Fähigkeiten auf der einen Seite und einer immer komplexeren und autonomeren Ich-Struktur, wie wir sie in der Antike dann vor uns haben und deren Erbe wir sind. Man könnte sagen, das eine direkte Weiterentwicklung daran scheitert, dass das Römische Reich in seiner enormen Ausdehnung damit überfordert ist, die großen und gewalttätigen Nomadengesellschaften seelisch zu entwickeln und zu integrieren. Dies erfolgte in dem komplexen Nachentwicklungsprozess des Mittelalters, der auch den nomadischen Völkerschaften des mittleren und nördlichen Europas die Erreichung der kulturellen Höhe einer komplexeren und autonomeren Ich-Struktur ermöglichte. Von hier aus war dann die weitere Entwicklung über die Renaissance, zur Aufklärung und Moderne möglich.
Geschichte als szenischer Lernprozess 20.2.15
Der historische Prozess hat eine ganz erstaunliche Dynamik, etwa das sind 12.000 Jahren eine Entwicklung von den nomadischen Kulturen zu den komplexen Kulturen der Moderne möglich war oder auch die Entwicklung von den nomadischen Kulturen im nördlichen Europa in 1500 Jahren zu den komplexen westlichen Gesellschaften. Diese Dynamik hat bisher, so weit ich sehe, keine Erklärung gefunden. Die historische Forschung begnügt sich mit einem nachzeichnen des Geschehens. Auch das ist schon ein großes Verdienst, das überhaupt komplexere Fragestellungen, wie sie hier versucht werden, ermöglicht.
Um diese Dynamik zu verstehen ist es erforderlich, eine Besonderheit der frühen Entwicklung beim Menschen zu vergegenwärtigen, und zwar beginnt die Entwicklung vorgeburtlich, geburtlich und nachgeburtlich mit einem motorisch- sensorisch- Imagination erleben, das rechtshirnisch aufgezeichnet wird. Dann erfolgt mit 2-3 Jahren ein Wechsel in deren Dominanz zum linken Hirn und zum Sprachzentrum. Das primäre Erleben des Menschen ist deshalb szenisch. Das Besondere besteht darin, dass beide Erlebnisebenen unzureichend aufeinander bezogen parallel laufen, wie dies in den rituellen Inszenierung bei den Stammeskulturen deutlich ist: die primäre emotionale Verfassung wird szenisch ausgedrückt, ohne dass das Individuum sagen kann, was es da tut. Doch kann man das Bedürfnis nachvollziehen, zu den rituellen Inszenierungen Geschichten zu erfinden, die im Laufe der Geschichte immer differenzierter werden und dann sogar eine gewisse Dominanz erreichen, wie das bei den Menschen deutlich ist, die eigentlich erzählte Initiationsriten sind, doch ist das szenische Element ganz verborgen.
Der kulturelle Raum ermöglicht also eine komplexere Balance zwischen primären szenischen Erleben und sprachlicher Repräsentanz. Anders ausgedrückt: durch die Inszenierung der primären Erfahrung kann in den linkshirnischen Hirnzentren wahrgenommen werden, was rechtshirnisch erlebt wird, und dies kann dadurch einer Interpretation zugänglich gemacht werden. Hierdurch kann sich das Individuum in einer komplexeren Weise über sich klar werden. Dieser Prozess läuft über ein intergenerationelles lernen: die eine Generation inszeniert, die nächste Generation kann schon interpretieren. Ein grandioses Beispiel für diesen Prozess ist die Entwicklung des griechischen Dramas, die relativ gut dokumentiert ist.
Auf der ersten Stufe stehen die szenischen Satyrtänze, die ursprüngliches Erleben szenisch gestalten. Die nächste Stufe besteht dann in einem mythenhaften Erzählen, wessen archaischer Charakter in den Schuhen sehr differenzierten Dramen von Äschylos noch gegenwärtig ist. Wie wiederum nächste Stufe, die schon Elemente psychologischer Resektion enthalten, sind dann die Dramen von Sophokles, bis dann bei Euripides die psychologische Reflexion ganz im Vordergrund, also irgendwie sind Generationen eine Bewusstseinstransformation vom archaischen zu einem fast modernen Niveau. Wesentlich ist, dass dann durch diese Entwicklung die archaischen Ebene quasi unbewusst wird. Man könnte sagen, erst im modernen „absurden“ Theater etwa bei Beckett wird sie wieder entdeckt.
Beharrungskräfte in der Geschichte 21.2.15
So erstaunlich die Transformations- und Entwicklungsvorgänge in der Geschichte sind, so sind in gewissen Sinne auch die Beharrungskräfte. Ein Beispiel hierfür sind die patriarchalen Muster in der Religion und auch in den Geisteswissenschaften. Weil mir der Bereich am vertrautesten ist, wähle ich zum Beleg die Psychoanalyse, die in einem Kaiserreich entstanden ist und dessen patriarchale Grundstruktur im Einzelnen widerspiegelt, und zwar trotz der darüber hinaus weisenden grandiosen innovativen Elemente. Dies wurde im einzelnen von Christa Rohde-Dachser in Ihrem Buch über „die Erkundung des dunklen Kontinentes“ durchdekliniert., so dass ich das hier nicht nachvollziehen muss. Ich will nur ein Beispiel nennen, und zwar die Genese des Über-Ichs aus der Vater-Beziehung, obwohl die Grundstruktur des Über-Ich natürlich in der frühen Mutter-Beziehung geprägt wird. Ein anderes Beispiel ist die so genannte ödipale Problematik, bei der die Vorgeschichte von Ungewollt-sein, Aussetzung und Verstümmelung souverän ausgeblendet wird. Da diese zum Teil bizarren Einengungen von innerhalb der Gruppe nicht wahrgenommen werden, weil sie eben „geglaubt“ werden, entsteht von außen der Eindruck von “nebelhaften“ Theorien und einem Kirchencharakter der psychoanalytischen Gesellschaften. Die Behauptung der patriarchalen Muster ist deshalb so stark, weil sie das Leben von Anfang an durchdringen und darum dann so selbstverständlich sind, weil sie, wenn man so sagen will, als Muster schon rechtshirnisch abgespeichert sind und darum eine Reflexion nicht zugänglich sind. Besonders krass sind diese Beharrungskräfte natürlich im Bereich der Religion, deren patriarchale Grundmuster ebenfalls von Anfang an vermittelt werden. Von klein auf lernen wir, entgegen allem Augenschein und auch entgegen allem Wissen, das alles vom Vater gemacht ist und die Mutter unwichtig ist, eigentlich keine Rolle im Weltgeschehen spielt, und wenn, dann nur eine marginale. In fast rührender Einförmigkeit werden diese patriarchalen Muster immer wiederholt. Eine Veränderung geschieht weniger durch direkte Auseinandersetzung, sondern durch ein Unwichtig-werden und in den Hintergrund treten. Dann können die transformativen Kräfte wirksam werden und die Kräfte für ein neues Verständnis von sich selbst und dem Bezug zur Welt freisetzen. Real beobachten wir ein ständiges nebeneinander von Beharrungskräften und transformativen ich Prozessen. Das ist wohl die Kraft der öffentlichen Freiräume, dass hier Abwägungen und Neusortierungen möglich sind.
Die instinkto-fötale Struktur der menschlichen Welt 27. 3. 2015
Einleitung
Der entscheidende Unterschied zwischen dem Homo Sapiens und den anderen Primaten besteht in der “physiologischen Frühgeburtlichkeit“. Der Mensch wird in der Mitte der natürlichen Schwangerschaft eines Nestflüchters geboren. Das hat zur Folge, dass er durch psychobiologische Bezugssysteme bestimmt wird, ein fötales und ein postnatales durch die Instinkte eines Primaten bestimmtes. Im so genannten „extrauterinen Frühjahr“ lebt er noch überwiegend im fötalen Bezugssystem, wie es sich in den magischen Weltanschauungen, den Götterhimmeln und den monotheistischen Religionen spiegelt. Als Kabbelkind, der Zeit seiner „natürlichen“ Geburt, erkundet und erobert die Welt, und wechselt zum postnatalen instinktbestimmten Bezugssystem, aber das fötale läuft im Hintergrund weiter. Dieser doppelte Bezug charakterisiert die „condition humaine“. Die Frage „Was ist der Mensch?“ wird in wichtiger Hinsicht durch die Aussage beantwortet, der Mensch ist ein Primat, der gewissermaßen in zwei Welten lebt, die er immer neu balancieren muss. Und diese Grundverfassung ist eine Wurzel seiner Kreativität und transformativen Kraft. Diese Perspektive soll in den folgenden Abschnitten im Einzelnen entwickelt werden.
Psychobiologischer Rahmen
Die „physiologische Frühgeburtlichkeit“ stellte eine neue Situation her, die zur Ausbildung neuer psychobiologischer Potenziale führte, wie wir sie in der kulturellen Entwicklung des Homo Sapiens beobachten können. Ich sehe hierin einen evolutionären Schritt der Umformung vorhandener Strukturen unter dem Zwang einer neuen Situation, wie etwa die Umformung Flossen in Extremitäten beim Wechsel auf das Land und der Extremitäten bei den Walen in Flossen während der Rückkehr ins Meer, um sich an die Gegebenheiten des jeweils neuen Milieus anzupassen. Den Anpassungszwang der neuen Situation sehe ich beim Homo Sapiens in der „physiologischen Frühgeburtlichkeit“, also der Verkürzung der Schwangerschaft, die eine Notlösung der Evolution im Gefolge des aufrechten Ganges war. Um ein stabiles Gehen zu ermöglichen musste das Becken stabiler und enger sein. Die Entwicklung der Verkürzung der Schwangerschaft war ein komplizierter Prozess. Man nimmt beim Homo Erectus noch eine Schwangerschaftsdauer von 16 Monaten an. Die neue Situation der sehr hilflosen und pflegebedürftigen Säuglinge hatte auch eine Umformung des Sozialverhaltens zur Folge, und zwar die Entwicklung einer Prosozialität der Väter, die sich um die so verletzliche Mutter-Baby-Dyade kümmerten, was es bei den übrigen Primaten so nicht gibt (Trevathan 1990).
Die noch dramatischere Folge dieser Verkürzung der Schwangerschaft war auf der individuellen Ebene das Nebeneinander von fötalem und postnatalem Bezugssystem. Dies war zunächst ein Mangel, insofern es zu einer Konfusion zwischen inneren und äußeren Wahrnehmungen führte, was als entwicklungspsychologisches Problem ausführlich von Crisan (2013) beschrieben worden ist. Dieses Problem bot aber gleichzeitig die Chance einer kreativen Umformung im Bezug zur Welt: neben dem realen Bezug, der durch die Instinkte eines Primaten bestimmt war, gab es den zweiten traumartigen magischen Bezug eines fötalen Erlebens, das gewissermaßen einen Rückzugs- und Sicherheitsraum in den Gefahren und Ausweglosigkeiten der realen Welt bot. So konnten sich die Mitglieder von Stammesgesellschaften bei realen Schwierigkeiten in die fötalen Erlebensmodus zurückziehen, in der sie von einem imaginären Totem und seinem immerwährenden Mana geschützt und versorgt wurden. Das war der Rückzugsraum auf der Gruppenebene und die regenerierende Schamanenreise zum Baum und Wasser des Lebens war der Rückzugsraum auf der individuellen Ebene. Diese Rückzugsräume waren eigentlich Innenräume, wurden aber in einem imaginären Außen lokalisiert. Das evolutionär entscheidende war, das sie einen Abstand nicht nur von den realen Gefährdungen ermöglichten, sondern auch von den aus den Instinkten resultierenden Zwängen des Verhaltens. In der fötalen Trance gewannen diese Menschen einen neuen Reflexions- und Begründungsraum jenseits der Zwänge des instinktiven Verhaltens.
Dieser erweiterte „innere“ Raum bedeutete eine neuartige Mentalität im Vergleich zu der eines in seinen Instinkten lebenden und durch diese bestimmten Primaten. Aus dieser Erweiterung heraus wurden die ersten für den Homo Sapiens so typischen Erfindungen möglich. Aus dem Bezug der fötalen Trance wünschte er sich die Welt als eine Art Mutterleib und dieser Wunsch war die Wurzel der für den Menschen so typischen Motivation, die Welt so zu verändern, dass sie den Bedingungen eines Mutterleibs entsprach. Für das vom fötalen Bezugssystem bestimmte magisch-animistische Erleben war die Welt selbstverständlich ein lebendiges Wesen. Von daher, wie gesagt, die Motivation, die Welt so zu verändern, dass sie sich auch wie ein lebendiges schützendes Wesen anfühlte.
Ein erster großer Schritt war dabei die Bändigung des Feuers, die in der realen Welt eine Wärme schuf, wie sie eben aus dem Erleben im Mutterleib urvertraut war. Diese Erfindung veränderte aber nicht nur die Welt sondern gleichzeitig den Menschen, der sich in einer urtümlichen Weise mächtig fühlen konnte, vielleicht so mächtig, wie er sich in „seinem“ ersten Reich gefühlt hatte. Hier beginnt aber auch eine Art Zweiteilung im Erleben des Menschen: das Erleben eigener Mächtigkeit konstituierte gleichzeitig die Abhängigkeit von einem noch mächtigeren Wesen, wie es der vorgeburtlichen Situation entsprach. Diese Zweiteilung zwischen irdischer und „himmlischer“ Macht durchzieht in den verschiedensten Ausformungen der Menschheitsgeschichte.
Das Gefühl der Macht bezieht sich also auf die Fähigkeit, in der realen Welt eine vorgeburtliche Situation, wie eben der Wärme durch die magische Macht des Feuers, herzustellen. Was anfangs wie Magie und Zauber war, wird im Laufe der Zeit alltägliche Praxis. Doch gibt es immer noch die heiligen Feuer wie im alten Rom das Feuer der Vesta, dessen Brennen die Einheit und den Zusammenhalt der Welt repräsentierte, eben weil es den Zauber der Mutterleibswärme in der realen Welt darstellte. Ein anderes Beispiel für den genannten Zusammenhang ist die Erfindung der Kleidung, die von den Unbilden des Wetters der äußeren Realität unabhängig machte und einen eigenen Klimaraum schuf, wie er auch vor der Geburt gegeben war. Etwas von der Magie und dem Zauber der Kleidung ist in den Roben der Könige und der Priester noch lebendig, deren Berührung eine große Heilkraft hatte (Kantorowicz 1990).
Ähnliche Zusammenhänge lassen sich auch für die Erfindung der Schutzräume vom Windschirm, über das Zelt, die Hütte bis hin zum Haus annehmen. Diese Räume schufen in der Welt einen Schutz vor den Unbilden der Welt, wie dies der Mutterleib vor der Geburt getan hatte. Auch hier lebte etwas von der Magie und dem Zauber des Urraumes in den heiligen Räumen der Tempel und später der Kirchen weiter, wie natürlich auch in den Palästen der Könige. Diese symbolische Präsenz des vorgeburtlichen Sicherheitsraumes schuf in der Unsicherheit der Welt eine magische Sicherheit, wie sie vor der Geburt Mutterleib gegeben war.
Dies soll als ein erster Hinweis auf den psychobiologischen Rahmen genügen, um eine Reflexion der Schritte in der kulturellen Evolution zu ermöglichen.
Literatur
Kantorowicz E (1990) Die zwei Körper des Königs. dtv, München 1990.
Crisan H (2013) Die prä- und perinatale Psychologie der Mentalitätsentwicklung. In: Janus L (Hg.) Die Psychologie der Geschichte der Mentalitätsentwicklung. LIT, Münster.
Kantorowicz E (1990) Die zwei Körper des Königs. dtv, München.
Trevathan W 1990): The Evolution of Helplessness in the Human Infant and its Significance for Pre- and Peri-Natal Psychology. In: Pre and Perinatal Psychology 4: 267-280.
Die Charakterisierung der Dynamik in der kulturellen Evolution
Ein Charakteristikum des Homo Sapiens ist die kontinuierliche Umgestaltung seiner Lebenswelt und seiner selbst. Die großen strukturellen Stufen sind die magisch-animistische Welt der Stammeskulturen, die von Göttern bestimmte Welt der antiken Kulturen, die von einem einzelnen Gott bestimmten Welt der monotheistischen Kulturen und die von einem Versuch zur inneren Regulierung und einer klareren Innen-Außen-Differenzierung bestimmte Welt der Moderne.
Der Beginn des Homo Sapiens als geschichtliches Wesen, besteht eben in dem Wirksamwerden der durch frühere biologische Gegebenheiten bedingten „physiologischen Frühgeburtlichkeit“. Die Dynamik der kulturellen Evolution wurzelt eben in dem Ungleichgewicht der beiden Bezugssysteme, die immer neue Ausgleiche erfordern oder zur Folge haben. Die magischen Rituale zur Bändigung der Natur schufen ein urtümliches Macht- und Autonomiegefühl, das wiederum die Fähigkeiten zur Bändigung des Feuers ermöglichte. Dies wiederum ermöglichte ganz neue Handlungsmöglichkeiten in der realen Welt. Das wiederum stärkte das Macht- und Autonomiegefühl, also ein wechselseitig sich verstärkender Prozess einer zunehmenden Veränderung der Welt und einer korrespondierenden Änderung der Mentalität.
Dieser Prozess verlief anfangs langsam. Die technischen Fortschritte in der frühen Steinzeit waren sehr bescheiden. Ein großer Schritt war sicherlich die Entwicklung der Sprache, der noch in einem eigenen Abschnitt behandelt werden soll. Nach Meinung der Sprachforscher lebte sie zunächst nur der Verständigung im Alltagsbereich über das Geschehen in im Sozialleben der Gruppe. Etwa vor 40.000 Jahren wird eine „kognitive Revolution“ lokalisiert, die darin bestand, dass die Menschen begannen über unsichtbare Dinge zu sprechen, d.h. konkret über ihre Gefühle und Empfindungen, dies aber in einer projektiven Weise in Bildern einer Überwelt, die aber die reale Welt widerspiegelte. Subjektiv wurde das aber in dem Sinne umgekehrt wahrgenommen, dass das Geschehen in der realen Welt eine Widerspiegelung des Geschehens in der jenseitigen Welt war. Das war zwar irrational, spiegelte aber die Realität wieder, dass das Erleben der realen Welt und die Handlungsmotivationen aus der inneren Welt der eigenen Empfindungen und Gefühle stammten. Letztlich wurden die irrationalen Aspekte dieser Verkehrung der Verhältnisse durch die kollektive Wahrnehmung erst von der Philosophie Kants zurechtgerückt, indem er nachwies, dass die Kategorien unserer Wahrnehmung von uns herkommen. Für die Welt der Gefühle und Empfindungen leistete die Psychoanalyse und die Tiefenpsychologie des 20. Jahrhunderts das entsprechende. Doch damit sind wir der Entwicklung weit vorangeeilt. Bis zur Aufklärung dominierte weithin die projektive Wahrnehmung.
Dabei lässt sich noch eine Stufe in der Psychoevolution genauer erfassen, und zwar die, die in der Differenz der Mentalitäten zwischen den Helden der Ilias und der relativ reflexiveren Mentalität des Odysseus zum Ausdruck kommt. Diese hat Julian Jaynes in seinem Buch „Der Ursprung des Bewusstseins“ differenziert beschrieben. Er hat dies in Bezug gesetzt zu einem Wechsel der Hirndominanz von der rechten Hirnhälfte zur sprachbestimmten linken Hirnhälfte. Die rechte Hirnhälfte steht für das projektive Erleben oder halluzinatorische Erleben, wie Jaynes es formuliert und die linke Hälfte für die Fähigkeit zur sprachbezogenen Reflexion. So werden die Helden der Ilias weitgehend vom Geschehen in den jenseitigen Welt der Götter bestimmt, die projektiver Ausdruck ihrer eigenen inneren Regungen sind. Im Gegensatz hierzu wird das Geschehen in der Odyssee wesentlich durch die reflexiven und personalen Intentionen des Odysseus bestimmt. Der deutsche Philosoph Schmitt hat in einer anderen Weise und Unabhängig von Jaynes ganz ähnliche Bezüge heraus gearbeitet. Insofern sind diese Texte ein einmaliges Dokument zum Verständnis der Bewusstseinsevolution.
Bemerkenswert ist, dass die frühen Psychoanalytiker das Erleben des Föten als halluzinatorisch bezeichnet haben, um den projektiven Charakter zu benennen.
Der individuellen Entwicklung vollzieht sich eben in einer vergleichbaren Weise in den ersten Lebensjahren in einem Übergang vom rechtshirnisch bestimmten projektiven Erleben zum linkshirnisch bestimmten fachbezogenen reflexiven Erleben, wie dies Piaget beschrieben hat. Nur vollzieht sich dieser Entwicklungsprozess beim heutigen Kind eben in einer reflexiven sprachbezogenen Kultur, die das Kind eben in diese Richtung drängt und sein unmittelbares projektives Erleben als „kindlich“ markiert. Die Mitglieder der Stammeskulturen verblieben bis ins Erwachsenenalter in dieser Mentalität. Nur sehr allmählich vollzog sich der Wechsel von der Rechtshirndominanz zur Linkshirndominanz. Man kann den geschichtlichen Prozess als eine Widerspiegelung dieser Entwicklungvorgänge sehen. Die Entwicklung in der Antike nach der so genannten Achsenzeit, die durch eine Zunahme der Reflexion gekennzeichnet ist, wie sie Jaspers ahnungshaft erfasst hatte, wurde durch die Problematik einer in ihrem Ausmaß nicht zu bewältigenden Integration riesiger Nomadengesellschaften, insbesondere der germanischen, gewissermaßen ausgebremst. Diese Integration vollzog sich dann in dem komplexen Rahmen der mittelalterlichen Kultur, die enorm spannungsreich zwischen halluzinatorischen und reflexivem, von der Antike übernommenen, Mustern einen erstaunlichen Lernprozess und Transformationsprozess vollzog, der dann in der Renaissance, der Reformation und der Aufklärung und schließlich der Moderne seinen Ausdruck fand.
Die Bedeutung der Sozialisation im psychohistorischen Prozess
Es ist das herausragende Verdienst des Psychohistorikers Lloyd DeMause die Bedeutung der Sozialisation im historischen Prozess herausgearbeitet zu haben, wie er sie in der Sentenz zum Ausdruck bringt: „Die Geschichte der Kindheit ist ein Albtraum, aus dem wir gerade erst erwachen.“ Die bisher genannten Gesichtspunkte erklären den Hintergrund. Homo Sapiens hat einerseits die instinktive und prosoziale Orientierung eines Primaten und gleichzeitig eine irrationale Orientierung aus dem Bezugssystem des fötalen Erlebens. Die Folge hiervon war und ist die von Crisan beschriebene Konfusion im Erleben und Verhalten, wie sich im Umgang mit den Kindern verhängnisvoll auswirkte, indem sie allen aus dem von fötalen Bezugssystem herrührenden abergläubischen Motivation und Verhaltensweisen wehrlos ausgeliefert waren. Ohne in Einzelheiten zu gehen, sei nur als ein krasses Beispiel eine geburtshilfliche Maßnahme in der frühen Antike genannt, und zwar die Opferung des Erstgeborenen zur Freihaltung der Geburtswege. Hierher gehören natürlich auch die verbreiteten Kinderopfer und die grausamen genitalen Verstümmelungen, die bis in die heutige Zeit reichen. Eindrucksvoll beschreibt DeMause den intergenerationell wirksamen reflexiven Prozess, der daraufhin wirkt, dass die Eltern ihren Kindern eine weniger traumatische Entwicklung zu vermitteln suchen als die, die sie selbst erfahren haben. Dies geschieht aber nur, wie wir wissen, in kleinen Schritten, weil gleichzeitig die traumatischen Muster eins zu eins weitergegeben werden.
Die Realität der beiden Bezugssysteme ist in der Lage, etwas von der Irrationalität im Verhalten der Eltern im Laufe der Geschichte zu erklären. Zum einen sind wir prosoziale Primaten, die sich liebevoll und fürsorglich um ihre Kinder kümmern und um deren Überleben und Entwicklung besorgt sind, weil nur so das Leben weitergegeben werden kann. Zum anderen sind wir mit einer zu frühen Geburt belastete Primaten, deren Folge eine Art lebenslange Grundunsicherheit ist, die nur mühsam durch den virtuellen Bezug auf eine fötale Ursicherheit kompensiert werden kann. Aber aus diesem fötalen Bezug resultieren die irrationalen Verhaltensweisen den Kindern gegenüber, die gewissermaßen zu einem gehören und denen gegenüber man sich völlig unabgegrenzt verhält. Darum können Sie für unausgelebte gewalttätige und sexuelle Impulse als „poison container“ missbraucht werden. Sie werden gewissermaßen Opfer dieser Unausgewogenheit in der Konstitution des Homo Sapiens. Dies leitet über zu dem so grundsätzlich bedeutsamen Thema des Opfers.
Psychodynamik des Opfers
Das Opfern ist eines der Grundeigentümlichkeiten des Menschen. Über das Ausmaß, in dem das Opfern den Alltag und das gesamte gesellschaftliche Geschehen begleitete, können wir uns heute kaum noch vorstellen. In einer sehr abstrakten Form des Opfers des Gottessohnes ist es ja auch bei uns noch ein zentrales kulturelles Paradigma. Aber noch in der Antike haben wir die Belege dafür, dass das Opfern das ganze Geschehen des Alltags begleitete und damit gewissermaßen immer präsent war. Überaus deutlich ist die zentrale Bedeutung des Opfers für das gesellschaftliche Leben in den indianischen Hochkulturen, wie dies Frazer in der „Goldenen Blüte“ so eindringlich über die Berichte der spanischen Eroberer beschrieben hat. Und Adorno und Horkheimer sehen in der Verinnerlichung des Opfers eine zentrale Leitlinie der Geschichte.
Doch was ist nun hier der psychodynamische Hintergrund? Auch hier wieder ist es die Diskrepanz der beiden Bezugssysteme. Zentral ist es der lebenslang wirksame Schock der zu frühen Geburt, der mit Gefühlen der Schuld oder des Zornes dem vorgeburtlichen lebenserhaltenden höheren Wesen gegenüber kontaminiert ist. Das ist eine der Paradoxien des Homo Sapiens, dass Gefühle aus dem Instinktbereich des prosozialen Primaten wie Schuld und Zorn in einer archaisierenden Weise mit dem unverarbeitbaren affektiven Geschehen der zu frühen Geburt in einer diffusen Weise verquickt werden. Das unbegreifliche, die instinktiven Verarbeitungsmöglichkeiten eines Primaten weit überschreitende Geschehen der zu frühen Geburt wird in einer unregulierten Weise mit den traumatischen Aspekten der Geburt verquickt. Aus diesem Bezug zu den Primatengefühlen erhält das unbegreifliche Geschehen der zu frühen Geburt eine Art Erklärung als Schuld oder Zorn der Götter, bzw. des mütterlichen lebenserhaltenden vorgeburtlichen und jetzt jenseitigen Schutzwesens. Dies ist der Hintergrund für das äönenlange Nachdenken und Grübeln der Theologen.
Diese Situation diffuser Verwirrung schafft einen Bruch im Verhältnis zur Welt, der anderen Tieren unbekannt ist. Aus dieser Gebrochenheit der menschlichen Existenzialität, Heidegger spricht aus einem letztlich ähnlichen Zusammenhang vom „Grundriss des Seins“, resultiert die überwältigende Bedeutung des Bewusstseins und der Reflexion beim Homo Sapiens. Dies sind vorhandene Möglichkeiten aus der Evolution, die jedoch beim Homo Sapiens eben aus der Gebrochenheit seines Verhältnisses zur Welt gewissermaßen immer aktiviert sind und eine zentrale Bedeutung gewinnen.
Man könnte es auch so ausdrücken, dass der Mensch mit der Welt, so wie sie ist, unzufrieden ist und ewig bemüht ist, auf den verschiedensten Wegen die verlorene Einheit wiederherzustellen, eben anfangs durch magische Rituale, dann durch den Aufbau „Heiliger Reiche“ und schließlich durch die modernen
komfortablen und regulierten Sicherheitswelten unserer westlichen Gesellschaften, die gewissermaßen „das Reich Gottes“ ein Stück weit auf dieser Welt realisieren, so dass Erlösungswünsche weit gehend in den Hintergrund treten, die Kirche gewissermaßen arbeitslos wird oder in Kurzarbeit geschickt wird.
Bedeutsam ist, dass es offenbar in der Evolution eine urtümliche Kraft zur transformativen Selbstorganisation gibt, die dazu dient, immer neue Lebensmöglichkeiten zu erschließen. Man könnte auch sagen, eine Kraft, die ermöglicht Notlagen in Lebensmöglichkeiten zu verwandeln. Vielleicht stellt diese Kraft sogar den Kern des Evolutionsprozesses dar, der eben auch in der kulturellen Evolution des Menschen wirksam wird, in dem aus der Notlage der zu frühen Geburt mit ihren traumatischen Aspekten die Chance einer innovativen und kreativen Schaffung neuer Lebensräume wird. Dies soll nun in einzelnen Abschnitten beschrieben und aufgenommen werden.
Die Psychodynamik der Großgruppen
Durch die Erschließung neuer Ressourcen gewinnt die kulturelle Evolution elementare Impulse. Das ist zum einen die neolithische Revolution mit der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht, die die Welt zu einem uterinoiden Nährwesen umgestaltete. Damit war eine Qualität des pränatalen Lebensraumes in der Realität installiert. Das bedeutete eine Mentalitätsveränderung mit einem enormen Zuwachs an Macht- und Autonomiegefühl. Man könnte auch von einer besseren Balancierung der beiden Bezugssysteme sprechen. Das fötale Bezugssystem wurde durch die Installation der Welt als Nährwesen gewissermaßen ein Stück weit versöhnt. Diese neue Welt löste die Mangelwelt der Nomadenkulturen ab, die wegen ihrer geringen technischen Möglichkeiten immer an ihren Überlebensgrenzen operierten. Das begründete wesentlich die unglaubliche Aggressivität vieler Nomadenkulturen bei veränderlichen Bedingungen in der geschichtlichen Zeit, wie wir sie von den Hunnen und den Kämpfen der Völkerwanderungszeit kennen. Die Überschusswelt der antiken Hochkulturen weckte eben die Begehrlichkeit der Nomaden in ihrer Mangelwelt, so dass Plündern und Rauben zu ihrem Lebensstil wurde, und zwar mit einer Wucht, die zum Untergang des Römischen Reichs beitrug. Diese Situation wiederholte sich später mit den Wikingern. Doch widerstanden hier die Strukturen der mittelalterlichen Reiche, die dann sogar umgekehrt die nomadischen Gruppen in ihren kulturellen Stil integrieren konnten, wie das auch mit den Ungarn geschah.
Die Umgestaltung der Welt zu einer Nährwelt durch die Erfindung von Ackerbau und Viehzucht und die damit verbundene Integration fötaler Bedürfnisse in die reale Welt führten zu einer Umgestaltung der Mentalität in dem Sinne, dass das Erleben der schützenden Elemente der realen Welt gestärkt war. Dies ermöglichte die Gestaltung gewissermaßen uterinoider Schutzräume in den Stadtkulturen. War auf der magischen Ebene der Stammeskulturen die reale Welt ein lebendiger Organismus, indem man lebte, waren die antiken Stadtkulturen von den Menschen selbst geschaffene Lebensräume, die gewissermaßen durch die imaginative Inszenierung fötaler Götterwelten seelisch zusammengehalten wurden.
Durch die Erfindung von Ackerbau und Viehzucht war zwar die Nährung gesichert, aber das fötale Bedürfnis, dass alles ohne eigenes Zutun geschieht, blieb unbefriedigt. Dies wurde aber zum Teil in den gesellschaftlichen Strukturen dadurch befriedigt, dass die einen für die anderen arbeiten mussten, insbesondere die Sklaven oder später die Leibeigenen für ihre Herren. Insofern kann man in Abwandlung der Aussage von Lloyd DeMause sagen, dass diese Ausbeutungsstrukturen der historischen Gesellschaften, die auf einem Ausleben von fötalen Bedürfnissen der Herrenschicht beruhte, ein Albtraum waren, aus dem wir gerade erst erwachen.
Der zweite große Strukturwandel in unserer Mentalität war die systematische Erschließung der natürlichen Energien von Kohle und Erdöl in der industriellen Revolution. Die Freisetzung der unglaublichen Kräfte der natürlichen Energien und deren zur Verfügungstellung durch Dampfmaschinen, Ottomotoren und Elektromotoren erfüllte die fötalen Bedürfnisse, dass alles von selbst und ohne eigene Anstrengung geschieht. Dadurch wurde deren Erfüllung durch Leibeigenschaft, Ausbeutung und Sklaverei überflüssig. Das entlastete die gesellschaftlichen Strukturen von der Notwendigkeit der realen und virtuellen Erfüllung fötaler Bedürfnisse. Dadurch konnten die realen nachgeburtlichen Bedürfnisse des Einzelnen erstmals in breiterem Ausmaß lebensgestaltend wirksam werden und damit die Entwicklung hin zu demokratischen Strukturen ermöglichen. An dieser Entwicklung können wir besonders deutlich sehen, dass die Entlastung von der Projektion fötaler Bedürfnisse in die Lebensgestaltung ein Zuwachs an Handlungsfähigkeit und Flexibilität bedeutet. Anders ausgedrückt: die Befriedigung fötaler Bedürfnisse im Rahmen der realen Lebenswelt führt zu einem Zuwachs von Autonomie. Vielleicht sollte man besser von Mitbefriedigung sprechen: das Nahrungsangebot bäuerlicher Kulturen befriedigt das fötale Bedürfnis nach umfassender Nährung gewissermaßen „mit“. Diese Entlastung von projektiven Elementen in den antiken Kulturen führt zu einer Flexibilität der Austauschprozesse, weil nicht mehr alles durch Heiligkeit gebunden war. Das ermöglicht die Flexibilisierung der Kooperation durch das Geldwesen.
Flexibilisierung der Austauschprozesse und der Kooperation durch Geld
Bei der Bezahlung von Sachen und Leistungen durch Geld zur Befriedigung von Bedürfnissen ist ebenfalls die Funktion das fötalen Bezugssystems zu beachten, wie sie in den mythologischen Vorstellungen und Ritualen des Geldwesens präsent sind. So etwa das den Schatz der primären Einheit symbolisierenden Goldes in der Zentralbank, dass „mein“ Zahlungsmittel unmittelbar mit der primären Einheit in Verbindung bringt. Das versieht das Zahlungsmittel mit in Signum der Glaubwürdigkeit, bzw. dem pränatalen Sicherheitsgefühl.
Ein anderer Ritus zur Herstellung der Glaubwürdigkeit oder des pränatalen Bezuges war im alten Griechenland, dass die Münzen ihren Ursprung in Weihegeschenken an die Große Göttin hatten. Die Weihe erhielten sie dadurch, dass sie die Vagina der großen Mutter berührt hatten. Das bedingte ihre Glaubwürdigkeit (Kurnitzky 1974). Christoph Türcke erläutert in seinem Buch „Mehr! Philosophie des Geldes“ noch andere aber vergleichbare Wurzeln des Münzwesens.
Die Dichotomie der Weihebedeutung des Geldes und seiner Alltagsfunktion hat eine Parallele darin, dass die irdischen Bauten zwar ihre Kraft aus ihrem Bezug zu den himmlischen Bauten, wie sie in den Tempeln und Palästen symbolisiert waren, bezogen, aber dann doch ganz alltägliche Funktionen erfüllten. Weil sie das auch wirklich taten und damit ein Stück Himmel auf die Erde holten, trat diese Alltagsbedeutung ganz in den Vordergrund und die mystische Bedeutung des pränatalen Bezuges kann erst heute durch psychologische Reflexion wieder entdeckt bzw. zugänglich gemacht werden.
Das fötale Bezugssystem wird durch die Sicherheitsgarantie der Staatsmacht befriedigt, wobei die Staatsmacht selbst unmittelbar der irdische Repräsentant der vorgeburtlichen Sicherheit ist. Das gibt dem Einzelnen in den Handelsbeziehung im Rahmen der Hochkulturen eine auf der Ebene der Stammeskulturen unbekannte Autonomie, wobei der erfolgreiche Handel wiederum die Selbstwirksamkeit oder Autonomie bestärkt. Diese Stärkung wird dadurch multipliziert, dass der Handel die Spezialisierung und die Verbesserung von allem und jedem fördert, wodurch jeder an den Verbesserungen von verschiedenen anderen partizipiert. Das ist sicher ein wichtiger Grund für die Beschleunigung in der kulturellen Entwicklung. Das gilt in noch größerem Ausmaß für die Freisetzung der natürlichen Energien für jedermann, die dessen Produktivität geradezu logarithmisch steigert.
Gleichzeitig macht diese Steigerung der Selbstwirksamkeit die Menschen unabhängiger von den rituellen Vergewisserungen wegen möglicher Schuld oder möglichen Zorns der Götter oder jenseitige Mächte, wie sie alle Aktionen in den frühen Kulturen unendlich verlangsamten. Wir machen uns nach meinem Eindruck zu wenig klar, welch enormer Zuwachs von Handlungsmöglichkeit und Produktivitätsmöglichkeit die heutige Situation bedeutet, dass ich in wenigen Minuten vielfältige Bedürfnisse in einem Supermarkt befriedigen kann. Und das Einkaufen im Internet potenziert diese Möglichkeiten noch einmal. Eine anderes Medium, das die kulturelle Entwicklung beschleunigt hat, ist die Schrift.
Literatur:
Kurnitzky H (1974) Triebstruktur des Geldes. Klaus Wagenbach, Berlin.
Psychodynamik der Schrift
Auch die Schrift dürfte einen perinatalen Hintergrund haben. Die Rückentwicklung der römischen Schriftzeichen zu den germanischen Runen spiegelt die magisch-animistische Mentalität dieser noch nomadischen Kulturen. Sie hatten einfach nicht das reflexive Niveau funktionaler Operationalität, die das Erfassen der abstrakten Funktion der Schriftzeichen erlaubt hätte. Zeichen hatten vor allem die magische Bedeutung eines Bezuges zur jenseitigen Welt. Ein spekulativer Hintergrund könnte der sein: vor der Geburt macht das Kind bedeutungsvolle Erfahrungen mit dem Abtasten der Plazenta oder der Eihäute. Alles Handeln der Welt war eine Widerspiegelung der Erfahrungen vor der Geburt, so auch das Zeichnen im Sand oder auf einen Blatt. So könnte man weiter vermuten, dass es gerade diese magische Bedeutungshaftigkeit war, die dem Medium Schrift so einen Erfolg brachte. Alles was wichtig und bedeutsam war und durch das Zeichen „verewigt" war, hatte damit Teil an der pränatalen Zeitlosigkeit. Auch hier wieder eine Integration pränataler und postnataler Lebenswirklichkeit, die eben durch das doppelte pränatale und postnatale Bezugssystem beim Homo Sapiens erforderlich ist. Ein anderes Beispiel für das konstruktive zusammenwirken der beiden Bezugssysteme ist die Musik.
Psychodynamik der Musik
Kurz und lakonisch bringt der englische Musikpsychologe den Zusammenhang in einen kurzen Satz: “Die Musik ist die pränatale Mutter“. Die vorgeburtliche Mutter ist die bewegende und die rhythmisch-melodisch Klingende in Form der „göttlichen“ Stimme der Mutter (Oberhoff 2008). Und insbesondere in den Stammeskulturen haben Musik und Tanz eine zentrale Bedeutung für die Kohärenz der Gruppenidentität. Durch die Musik und den Tanz wird für die Gruppe die Verbundenheit mit der vorgeburtlichen Welt inszeniert, beschworen und identitätsstiftend wiederhergestellt. Das ist ein Element der Konstitution kultureller Identität jenseits der Primatenidentität. Darum können Tänze bei manchen Gruppen einen Großteil des sozialen Lebens ausmachen. Sie sind in diesem Sinne existenzielle Sicherung der erreichten Identität.
Literatur
Oberhoff B (2008) Das Fötale in der Musik. Musik als „Das Große Bewegende“ und „Die Göttliche Stimme“. In: Janus L, Evertz K (2008) Kunst als kutlurelles Bewusstsein vorgeburtlicher und geburtlicher Erfahrungen. Mattes, Heidelberg.
Psychodynamik des Raumerlebens
Bei den Primaten fallen Handlungsraum und der Erlebensraum vollständig zusammen. Handlung und Erleben sind auf das innigste miteinander verwoben. Beim Homo Sapiens haben wir die Dichotomie der beiden Bezugssysteme des instinktiven und des fötalen. Hierdurch besteht die Möglichkeit aus der sonst so verbindlichen durch die Instinkte bedingten Verwobenheit von Handlungs- und Erlebensraum gewissermaßen auszusteigen und sich in den anders gearteten fötalen Erlebnisraum einzuklinken. Auf der Ebene der Stammeskulturen sind beide Raumbezüge gleichzeitig präsent oder laufen nebeneinander her. Besonders Obrist hat eindringlich geschildert, wie für die Mitglieder von Stammeskulturen die Wirklichkeit gleichzeitig wirklich und gleichzeitig heilig-magisch ist. Von den Aborigines gibt es hier den Ausdruck der „Traumzeit“, andere Kulturen sprechen von „Wakan“, um die gefühlsmäßige Präsenz des fötalen Bezugssystems in der Wirklichkeit zu benennen. Die verschiedenen Erfindungen führen zu einer anfänglichen Integration der beiden Räume: die Wärme des Feuers repräsentiert gleichzeitig die Wärmen des Mutterleibs in der Außenwelt. Die Außenwelt wird in diesem Bereich gefühlsmäßig zur primären Heimat. Die Fähigkeit sehr verschiedene Umwelten durch verschiedene Techniken in reale Lebensräume zu verwandeln ist das große Potenzial der Stammeskulturen, die an sich widrige Umwelten in Lebenswelten verwandeln, etwa durch Techniken des Fischfangs oder der Jagd. All dies bereitet den kulturellen Umschlag der neolithischen Revolution vor, die auch noch mit komplexeren Techniken der Umweltbeeinflussung und mit einer Umgestaltung der Welt in eine Nährwelt einhergeht.
Um die Veränderung der beiden Raumbezüge im Rahmen der neolithischen Revolution zu verstehen, ist es notwendig noch einmal einen Schritt zurück zu gehen zum Raumerleben auf der Ebene der Stammeskulturen. Der durch das fötale Erleben geschaffenen Raum gewinnt die Bedeutung einer Vorstufe eines Reflexionsraumes für das Erleben auf der instinktiven Ebene. Eine Wutregung spiegelt sich im Erleben eines bösen Geistes, der dann mit magischen Mitteln beschworen werden muss. Der eigentliche Zusammenhang, dass es sich um ein inneres Erleben handelt, kann jedoch nicht durchschaut werden. Das entscheidende ist, dass der fötale Erlebnisraum hier eine konstruktive neue Funktion gewinnt, die der magischen Gefühlsverarbeitung. Es entsteht eine Art Innenraum, der aber projektiv im Außen erlebt wird.
Gleichzeitig können sich im Außenraum durch die verschiedenen Erfindungen wie Feuer, , Kleidung, Haus usw. fötale Bedürfnisse auszuleben oder ihre Befriedigung finden. Das bedeutet also, dass die beiden Bezugsräume im Rahmen der kulturellen Entwicklung immer mehr miteinander in einer kreativen und neuartigen Weise verwoben werden. Dies ist aber nicht mehr die Verwobenheit von Handlungs- und Erlebensraum, wie wir sie bei den Primaten finden, sondern eine Verwobenheit, die im Einzelnen oder im Kollektiv selbst gesteuert wird, wobei in der Zwischenzeit Individual-Ich und Gruppen-Ich noch weit gehend zusammenfallen. Die Konstellation von der Zuordnung der beiden Bezugssysteme möchte ich als Mentalität bezeichnen, die sich eben im Zuge der
geschichtlichen Entwicklung fundamental wandelt, so dass man von einer biopsychologischen Mutation sprechen kann, wie dies Obrist in Bezug auf die Mutation zum modernen Bewusstsein, das durch einer Innenregulation der Gefühle charakterisiert ist, getan hat.
Ein in gleichem Sinne bedeutsamer Schritt ist der Übergang von den nomadischen Kulturen zu den frühen Hochkulturen und später zur Antike, der in einer Weiterentwicklung der komplexen Kooperation der beiden Bezugssysteme besteht. Der durch das fötale Erleben bestimmte Raum wird in eine himmlische Überwelt verlegt, bei den Griechen auf den Olymp. Obrist spricht hier von einem Auseinanderschieben von Himmel und Erde, wodurch auf der Erde ein von Menschen gestalteter Lebensraum entsteht, wie ihn die frühen Stadtkulturen repräsentieren, der die primären Heimatlosigkeit durch die Verwandlung der Welt in eine neue Heimat gewissermaßen aufhebt. Gleichzeitig ist alles Geschehen in der realen Welt nur eine Widerspiegelung des Geschehens in der himmlischen Heils, wie uns dies in der Ilias noch plastisch vor Augen geführt wird. Das irdische Jerusalem ist eine Kopie des himmlischen Jerusalems, die Tempel repräsentieren als Wohnung der Götter ein Stück Jenseits und Diesseits. Auch in den Gebeten wird diese Einheit, dass alles von einem höheren Wesen bestimmt wird, bis heute beschworen, wenn auch in einem patriarchalen Duktus, obwohl es in Wirklichkeit um die Einheit mit der vorgeburtlichen Mutter geht.
Hierdurch wird der primären Einheit gewahrt, der alles kulturelle Leben dient, wenn man so will, ein Ungeschehen-machen der biologisch bedingten Frühgeburtlichkeit. Doch dies soll später noch ausführlicher reflektiert werden.
Hier ist im Moment die neuartige Kooperation der beiden Bezugssysteme das Thema die in der Schaffung einer eigenen komplexen Lebenswelt zum Ausdruck kommt, in der die von den Menschen selbst gehandhabten Techniken das Leben und Überleben sichern. Die gravierende Unvollkommenheit dieser Techniken und der eklatante Mangel an Wissen werden in den traditionalen Kulturen durch die imaginäre Sicherheit einer durch das magische Erleben bestimmten Überwelt kompensiert. Die ständige Vergewisserung dieses jenseitigen Schutzes durch Priester und Könige, durch magische Präsenz perinatalsymbolischer Räume in Tempeln und Palästen stellt eine Trance her, die die reale Unvollkommenheit der Welt als Widerspiegelung der Vollkommenheit der jenseitigen Welt erscheinen lässt. Wenn man sich die Fragilität und Irrationalität dieses gesellschaftlichen Systems vergegenwärtigt, kann man eigentlich staunen, wie diese kulturellen Systeme überhaupt überleben konnten. Besonders an den sehr frühen indianischen Kulturen, die nach kurzen Blütezeiten rasch immer wieder zu Grunde gingen, wird ja auch die Fragilität dieser Systeme deutlich. Was sind nun die Gegenkräfte, die trotz dieser geringen praktischen Kompetenz, ein Überleben und eine Entwicklung dieser frühen Kulturen erlaubte. Man könnte da zum einen elementaren Überlebenswillen nennen, den wir als biologische Kreaturen haben, und zum anderen die Begeisterung und den Enthusiasmus über die erreichten Fortschritte in der Schaffung einer eigenen Lebenswelt, die sich in den Heldenmythen widerspiegelte und Wilhelm Wundt von dieser Zeit sogar als einem Heldenzeitalter sprechen ließ..
Ein anderer Aspekt der Fragilität dieser frühen Kulturen ist der, dass sie in einer heute unvorstellbaren Weise kriegsbereit waren. Wegen der Unbeholfenheit innerer Regulierung und Beziehungsregulierung waren relativ kleine Konflikte und Störungen, sei es von innen oder von außen, schon Anlass von kriegerischer Bereitschaft, wie wir dies sowohl von den indianischen Kulturen, den mesopotamischen wie auch den germanischen Kulturen der Völkerwanderungszeit kennen. Weil letztlich die pränatale Imagination Sicherheit herstellte, ist es auch verständlich dass Veränderungen und Störungen in geburtssymbolischen Kriegsaktivitäten ausgelegt wurden. Der Geburtskampf ist das Urmuster der Bewältigung einer Veränderung, wie dies David Wasdell in seinem Buch „Die pränatale perinatalen Wurzeln von Religion und Krieg“ ausgeführt hat. Von der urtümlichen Mentalität dieser frühen Kulturen her war der kriegerische Geburtskampf so etwas wie die einzige Möglichkeit, mit einer mit einer Veränderung fertig zu werden.
Eine sehr spezielle Weiterentwicklung der Kooperation der Räume der beiden Bezugssysteme war dann die Entwicklung im Mittelalter, bei der die Legierung
von zentralistischen Elementen der römischen Kultur und des kämpferischen Überlebenswillens halbnomadischer Stammeskulturen eine spannungsreiche höchst dynamische Mischung ergab. Um dem römischen Reich militärisch überhaupt gewachsen zu sein, hatten sich ja die kleinen germanischen Stämme zu größeren Verbänden mit stärkere organisatorischen Strukturen zusammengetan, was ihnen ja schließlich auch ermöglichte im weströmischen Reich in einzelnen Königreichen die Macht zu übernehmen. In der Ausbildung der mittelalterlichen Kirch als einem dominierenden magischen Sicherheitsraum zeigte sich in verwandelter Form die magisch-animistische Orientierung der ursprünglichen Stammeskulturen bei gleichzeitigen Ansätzen zur Übernahme komplexerer organisatorischer gesellschaftlicher Strukturen aus der römischen Antike. Der spannungsreiche Kampf dieser verschiedenen gesellschaftlichen Bezüge führte dann zu der Integration, die die Renaissance und später die Aufklärung ermöglichten. Die organisatorische Kompetenz auf der Römerzeit wurde gewissermaßen in der Kirchenorganisation weitergeführt und gleichzeitig aber auch in der staatlichen Organisation, die etwa im Reich Karls des Großen. Es war dann noch ein weiter Weg, diese Kompetenz in die Lebenspraxis der Gesellschaften zu integrieren. Diese zunehmende Fähigkeit der westeuro-päischen Gesellschaften relative Sicherheitsräume zu schaffen relativierte die Notwendigkeit des magisch-totalitären Sicherheitsraums der mittelalterlichen Kirche. In den reformatorischen Bewegungen entwickelte der magisch-religiöse auf das Pränatale bezogene Raum schon einen viel personaleren Charakter. Die magische Macht lag mehr nicht nur bei Kaiser und Papst, sondern zunehmend auch bei der einzelnen Person. Dies bedeutete einen beträchtlichen Zuwachs an Autonomie und führte zu der Zunahme an konstruktiver Handlungsfähigkeit im 16. und 17. Jahrhundert. Diese starken Veränderungen in den mentalen Bezugsräumen bedeutete gleichzeitig elementare Verunsicherungen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Orientierungsräumen, was begleitet war von den zahlreichen Kriegen, die schließlich im dreißigjährigen Krieg kulminierten. Gerade dieser Krieg verdeutlichte aber, dass eine Orientierung an den rein pränatal fundierten fundamentalistischen Kirchen, in den komplexeren Gesellschaften keine Verantwortlichen Handlungsorientierungen bereitstellte. Gerade diese Infragestellung und Überlebtheit solch einseitiger magischer Sicherheitsräumen wie der der Kirche oder des Königtums ermöglichte die kognitive und gesellschaftliche Befreiung, wie sie dann der Aufklärung realisiert wurde.
Das bedeutete gleichzeitig oder war eine grundsätzliche Änderung der Mentalität, und zwar wurden elementare Sicherheit nicht mehr im projektiven Raum von geistlicher und weltlicher Herrschaft gesucht, sondern in der eigenen Fähigkeit zu denken in verantwortlicher Orientierung an der Vernunft, und zwar an der Vernunft jedes Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt. Man kann die Entwicklung der letzten 200 Jahren so verstehen, dass sie darauf hin arbeitet, dass auch für die Gefühle Verantwortung übernommen werden soll, wie dies in der Literatur und der Tiefenpsychologie durchgearbeitet wird. Das bedeutet insbesondere Verantwortung für die eigene Lebensgeschichte von Anfang an. Was früher projiziert war, soll nun innerlich verarbeitet werden, also nicht der Gefühlsregulation im sozialen Raum sondern in uns selbst und in unseren Beziehungen.
Diese Entwicklung war wesentlich durch Sicherheit unserer gesellschaftlichen Lebensräume möglich und unsere Fähigkeit in wechselseitiger Abstimmung Ordnungen des Zusammenlebens zu bestimmen.
Psychodynamik des Innenraums
Eine der wesentlichen Errungenschaften des psychohistorischen Prozesses ist die Etablierung eines reflexiven und gleichzeitig erlebensbezogenen Innenraumes. Das ist die Errungenschaft der modernen Mentalität, die Gleichzeitigkeit von Reflexion und Erleben, wie dies paradigmatisch in der so genannten analytischen Situation in der Gesellschaft etabliert wurde. In vollständiger Weise aber nur in der von Rank um die frühesten Erlebnismodalitäten erweiterten Form, der ja auch diesen Ausdruck geprägt hat. Freud hatte zwar diesen Raum öffnet, musste aber zentrale Elemente in Form von mythischen Konstrukten wie Ödipuskomplex und Narzissmus einfügen, weil eben die früheste Mutterebene für ihn noch nicht reflektiert fahrbar. Diese wurde in einer wissenswerten Weise im Rahmen der Regressionstherapien oder Erlebnistherapien erschlossen, so dass diese Elemente heute wieder zusammengefügt werden können (Janus 2015). Dadurch kann die analytische Situation in ihrer vollen Komplexität der Präsenz der verschiedenen Erlebensschichten entfaltet werden. Hilfreich dabei ist sicher die Vergegenwärtigung des psychohistorischen Bewusstwerdungsprozesses, wie er hier dargestellt werden soll, jetzt speziell der psychohistorische Hintergrund des modernen Innenraums, der eine innere Selbstregulation erlaubt, was eben psychohistorisch neu ist.
Am Beginn steht der magische Projektionsraum auf der Ebene der Stammeskulturen, in dem das projizierte Erleben dominiert. Dadurch wird aber erstmals eine Konfrontation und Übersetzung mit inneren Befindlichkeiten möglich, während auf der Ebene des Primaten nur die Ausführung der instinktiv gegebenen Muster möglich war, und Reflexion nur im letzten Abschnitt der Durchführung möglich war. Durch die Projektion der inneren Befindlichkeiten steht gewissermaßen der gesamte Motivationskomplex zur Disposition und kann durch Rituale und Beschwörungen begrenzt modifiziert werden.
Der weitere psychoevolutionäre Schritt bestand darin, dass dieser Projektionsraum zu einer Art projektiven Leinwand fortentwickelt wurde, auf der sich, , wie Freud sich ausdrückte, „das gesamte Seelenleben“ in lebhaftesten Bildern und Erzählungen abbildete, aber mit einer magischen Wirksamkeit , die in den frühen Hochkulturen bindend war und in den gesellschaftlichen Veranstaltungen nachgespielt wurde, und in der späteren Antike durch unendliche Wiederholungen und dann auch durch dramatische Gestaltungen von einzelnen Autoren zunehmend mit Reflexionen angereichert war und damit eine Auseinandersetzung in einem inneren Reflexionsraum anbahnte.
Diese reflexiven Ansätze in der Antike wurden dann durch die Denker und Dramatiker nach der Renaissance wieder aufgegriffen und fortgeführt, besonders eindrucksvoll und epochal durch Shakespeare, der Caesar paradigmatisch sagen lässt: „It is not in the stars, it´s in us“ und Schiller formuliert im gleichen Sinne den introjektiven Vorgang, wie er sich in der Aufklärung ereignet: „und nimmst du die Gottheit in deinen Willen auf, steigt sie von ihrem Weltenthron“.
Dieser epochale Verinnerlichungsvorgang verläuft auf vielen verschiedenen Ebenen. Eine Dimension ist die Dichtung der Romantik, die die religiöse Projektion in modifizierter und personalisierter Form auf die Natur überträgt. Gleichzeitig ist damit die Entdeckung einer intensiven Innerlichkeit verwundern. Ein Korrektiv für die projektiven Aspekte der Romantik ist dann die Literatur des Realismus, der eine deutliche Differenzierung der realen Lebens- und Ausgangsbedingungen eines Menschen und seinem subjektiven erarbeitet. Eine Art Gegenbewegung ist dann wieder der Expressionismus und Symbolismus, der dann die tieferen Seelenschichten erkundet, wie dann der Psychoanalyse reflexiv erfasst werden. Der methodische Hintergrund dieser Forschung ist dann die schon genannte analytische Situation und später allgemeiner die psychotherapeutische Situation, die eine individuelle Erfassung von seelischen Bereichen erlaubt, die durch traumatische Belastungen von der seelischen Entwicklung zur Reife eines Erwachsenen ausgeschlossen blieben. Und seelische Reife eines Erwachsenen heißt unter den demokratischen Bedingungen des 20. Jahrhunderts die Fähigkeit auch die eigenen emotionalen Reaktionen reflektieren zu können. Man kann ist zu sehen, dass die gesamte moderne Kunst der Erforschung Präsenz der frühen und frühesten Erlebensschichten gewidmet ist. In Bezug auf die bildende Kunst von teilweise auch darüber hinaus haben Klaus Evertz und ich dieser Thematik zwei Bücher gewidmet: „Kunstanalyse“ (2002) und „Kunst als kulturelles Bewusstsein pränatalen und perinatalen Erlebens“ (2008).
Das gesellschaftliche Problem in dieser psychohistorischen Dynamik bestand darin, dass die Stufe eines reflexiven emotionalen Bewusstseins nur von einer relativ kleinen bürgerlichen Oberschicht erreicht war, während die Mehrheit in den westlichen Ländern noch in den Trancen eines projektiven Nationalismus und in der Sowjetunion einer Ideologischen Heilslehre befangen war. Darum konnte der geschichtlich erforderte Übergang zu einer pluralistischen und individualistischen demokratisch organisierten Gesellschaft nur in dem katastrophischen initiatischen Kampf eines Weltkriegs erfolgen, in denen sich die neue reflexive und demographische Mentalität, wenn auch mit einigen Verzögerungen, durchsetzte und weiter durchsetzen wird. Dieser Väter im einzelnen verhandelt werden. Im Moment will ich nur betonen, dass sich die reflexive, emotionale und bezogene Mentalität in den westlichen Ländern durchgesetzt hat. Mentalität ist durch eine klare Innen- und Außendifferenzierung und eine bezogene und selbstreflexive Emotionalität charakterisiert. Dieser Weg vom magischen zum diesem Sinne modernen Bewusstsein ist heute in Umrissen erfassbar. Dies erlaubt eine Reflexion und Einverständnis der unterschiedlichen Mentalitäten in den verschiedenen Gesellschaften und dies würde einen viel abgestimmter Umgang mit den Unterschieden der verschiedenen Mentalitäten erlauben und dabei helfen, aggressive Prozesse zu vermeiden.
Literatur:
Evertz K, Janus L (Hg.) Kunstanalyse. Mattes, Heidelberg.
Janus L (2015) Geburt. Psychosozial, Gießen.